Proportionalität in der Versicherungsaufsicht

Was bedeutet Proportionalität in der Versicherungsaufsicht?

Das Proportionalitätsprinzip ist ein zentrales Element der Versicherungsaufsicht nach Solvency II. Es verlangt, dass aufsichtsrechtliche Anforderungen in einem angemessenen Verhältnis zur Risikoexposition eines Versicherungsunternehmens stehen. Die BaFin berücksichtigt dieses Prinzip sowohl bei der Beurteilung als auch bei der Durchsetzung von Aufsichtsmaßnahmen – dies wird als doppelte Proportionalität bezeichnet.

Proportionalität in der Aufsichtspraxis: Verantwortung teilen

Für Versicherungsunternehmen bedeutet Proportionalität, dass sie ihre Risiken eigenständig bewerten und aufsichtliche Vorgaben daran anpassen. Die BaFin wiederum muss ihr aufsichtsrechtliches Handeln am Risikoprofil des Unternehmens ausrichten. Dieses wechselseitige Prinzip fördert einen intensiven Dialog zwischen Aufsicht und Unternehmen.

Solvency II und Proportionalität: Gesetzlicher Rahmen und BaFin-Initiative

Die BaFin wirkt aktiv an der Weiterentwicklung von Solvency II mit, um das Proportionalitätsprinzip zu stärken – insbesondere durch Impulse für neue Regelungen für Small and Non-Complex Undertakings (SNCU). Diese bieten kleinen Versicherern deutliche Erleichterungen bei der Umsetzung aufsichtsrechtlicher Anforderungen.

Aufsichtliche Umsetzung: Proportionalität in allen drei Säulen

1. Säule: Kapitalanforderungen

Die quantitativen Anforderungen der Säule 1 im Solvency-II-Regelwerk umfassen die Bewertung von Vermögenswerten, Verbindlichkeiten, Kapitalanforderungen sowie der verfügbaren Eigenmittel. Sie sind weitgehend prinzipienbasiert gestaltet – mit bewusst offengehaltenen Vorgaben, die Unternehmen risikoorientiert anwenden können. Dies schafft Raum für das Proportionalitätsprinzip in der Versicherungsaufsicht.

Ein zentrales Regelwerk ist die Delegierte Verordnung (EU) 2015/35 (DVO). In Kapitel II erlaubt Artikel 9 Absatz 4 DVO unter bestimmten Bedingungen die Nutzung von HGB-Bewertungen, sofern keine wesentlichen Abweichungen vom Marktwert bestehen. Die BaFin hat hierzu eine konkretisierende Auslegungsentscheidung veröffentlicht.

Auch bei der Bewertung versicherungstechnischer Rückstellungen (Kapitel III DVO) greift das Proportionalitätsprinzip. Abschnitt 6 regelt zulässige Vereinfachungen, etwa bei Annahmen oder Berechnungsverfahren – insbesondere für kleinere oder weniger komplexe Versicherer. Die BaFin hat diese Grundsätze in der Praxis verankert und national präzisiert.

Für die Berechnung der Kapitalanforderungen mit der Standardformel bietet die DVO ebenfalls Vereinfachungsmöglichkeiten – geregelt in Art. 84 sowie 88–112b DVO. Sie orientieren sich an Art, Umfang und Komplexität der Risiken. Wichtig ist: Artikel 88 DVO fordert, dass solche Vereinfachungen das Risiko nicht unterschätzen. Für Captives gelten spezifische Erleichterungen nach Artikel 89 DVO.

Das Proportionalitätsprinzip erstreckt sich auch auf Stresstests innerhalb der Standardformel. Diese beruhen auf definierten Szenarien, in denen Vermögenswerte und Verbindlichkeiten neu bewertet werden. Vereinfachungen sind nur zulässig, wenn sie konservativ ausgelegt sind – das heißt: Sie dürfen das Risiko nicht verharmlosen und führen im Zweifel zu höheren Kapitalanforderungen als bei vollständiger Berechnung.

Insgesamt zeigt sich: Proportionalität ermöglicht Flexibilität, verlangt aber zugleich ein wirksames Risikomanagement. Pauschale Vereinfachungen ohne Bezug zur tatsächlichen Risikolage sind nicht zulässig, da sie relevante Risiken verdecken oder unterschätzen könnten.

2. Säule: Governance & Risikomanagement

Die Säule 2 des Solvency-II-Regelwerks bezieht sich auf qualitative Anforderungen, insbesondere an die Geschäftsorganisation, das Risikomanagement und die Governance-Strukturen von Versicherungsunternehmen. Ihre prinzipienbasierte Ausgestaltung ermöglicht der BaFin eine flexible, risikoorientierte Aufsicht, die sich konsequent am Proportionalitätsprinzip orientiert.

Proportionalität im Risikomanagement: Maßstab ist das individuelle Risikoprofil

Im Zentrum steht das unternehmensindividuelle Risikoprofil: Alle Governance- und Risikomanagementmaßnahmen müssen in Art, Umfang und Tiefe an die spezifische Risikolage angepasst sein – unabhängig davon, ob es sich um ein großes Solvency-II-Versicherungsunternehmen oder ein kleines Versicherungsunternehmen handelt.

Dies betrifft unter anderem:

  • Risikoinventur und -bewertung: Unternehmen müssen Risiken regelmäßig erfassen und bewerten. Dabei können Risiken, denen das Unternehmen eindeutig nicht ausgesetzt ist, ausgeklammert werden.
  • Frequenz und Tiefe der Bewertung: Je größer die Bedeutung eines Risikos, desto häufiger und detaillierter muss dessen Analyse erfolgen – ggf. mit quantitativen Methoden statt bloßen Expertenschätzungen.
  • Bewertungsmethoden: Kleinere Unternehmen mit geringem Risikoprofil dürfen vereinfachte Verfahren anwenden – auch für Risiken, die nicht in der Standardformel (SCR) berücksichtigt werden.

Stresstests: Aufsichtliche Erwartung abhängig vom Risikoprofil

Auch die Erwartungshaltung der Aufsicht gegenüber Stresstests richtet sich proportional nach der Risikolage:

  • Unternehmen mit geringer Risikoexposition können vereinfachte, ggf. externe Szenarien (z. B. aus dem Notfallmanagement) heranziehen.
  • Bei komplexeren Risikoprofilen sind dagegen umfangreichere Stresstests erforderlich – etwa mit längeren Zeiträumen, mehreren Risikotreibern und quantitativen Analysen.

Governance-Rundschreiben: Maßgeschneiderte Anforderungen

Säule 3 von Solvency II: Wie die BaFin Flexibilität in der Berichterstattung ermöglicht

Die dritte Säule von Solvency II regelt die Berichterstattungspflichten von Versicherungsunternehmen gegenüber der Aufsichtsbehörde und der Öffentlichkeit. Sie ist geprägt vom Proportionalitätsprinzip, das der BaFin Spielraum für eine risikoorientierte und unternehmensgerechte Umsetzung ermöglicht – insbesondere bei der Anwendung quantitativer und narrativer Berichtspflichten.

Quantitative und narrative Berichterstattung – ein differenzierter Ansatz

Unternehmen müssen jährlich sowohl quantitative Daten (z. B. Kapitalanforderungen, Risikopositionen) als auch narrative Inhalte (z. B. Strategie, Governance, Risikomanagement) berichten. Ein zentrales Element ist der SFCR (Solvency and Financial Condition Report), der öffentlich zugänglich gemacht wird. Obwohl bestimmte Mindestinhalte vorgeschrieben sind, richtet sich der Detaillierungsgrad nach Art, Umfang und Komplexität der Geschäftstätigkeit (§ 40 Abs. 2 VAG).

Die BaFin prüft alle Berichte gemäß diesem Grundsatz. Beispiel: Hat ein Unternehmen nur minimale Aktieninvestitionen, muss es das Aktienrisiko nicht im Detail erläutern.

Befreiungen und Schwellenwerte: Entlastung durch Proportionalität

Zusätzliche Erleichterungen bestehen durch:

  • § 45 VAG: erlaubt Befreiungen von quantitativen Berichtspflichten
  • Durchführungsverordnung (EU) 2023/894: definiert Schwellenwerte für einzelne Berichtsbereiche
  • Schätzwerte für unterjährige Meldungen: zulässig bei nachvollziehbarer Begründung

Diese Regelungen zeigen: Die BaFin nutzt bewusst bestehende Spielräume, um Unternehmen mit geringer Risikokomplexität zu entlasten.

Neues Proportionalitätsrahmenwerk durch den Solvency-II-Review

Mit der Änderungsrichtlinie (EU) 2025/2, in Kraft seit dem 28. Januar 2025, wurde ein neues, erweitertes Proportionalitätskonzept etabliert – insbesondere für die neue Kategorie der Small and Non-Complex Undertakings (SNCU). Die BaFin hat diese Entwicklung aktiv vorangetrieben und war maßgeblich an der Konzeption beteiligt.

  • SNCU profitieren automatisch von Erleichterungen
  • Nicht-SNCU können diese nach Genehmigung beantragen
  • Auch ohne Zugehörigkeit zur SNCU-Kategorie bleibt das allgemeine Proportionalitätsprinzip gültig – ausgerichtet am unternehmensindividuellen Risikoprofil

Erleichterungen in allen drei Säulen – auch bei der Berichterstattung

Konkret ergeben sich für SNCU unter Säule 3 u. a. folgende Vorteile:

  • Befreiung von bestimmten quantitativen Meldungen
  • Reduzierte Frequenz des „Regular Supervisory Report“ (RSR)
  • Kürzere und vereinfachte SFCR-Dokumentation

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